Über asexuelle Sinnlichkeit
Ein Gastbeitrag
An bestimmten Tage brauche ich für einen Rausch weder Alkohol noch Sex oder andere Dinge. Dann reicht es, wenn ich mich mit dem Rücken an meine Balkonbrüstung lehne und wie gebannt in den Himmel starre. Wenn ich dann zu mir zurückkomme, ist plötzlich jedes Detail neu und spannend: die samtigweiche Textur einer Blüte unter meinen Fingern, die Poren der Steine an der Hauswand, die ich noch nie von so nah betrachtet habe. Ich muss kichern, weil sich mein Schnittlauch plötzlich anfühlt wie viele kleine neugierige Tierchen, wenn ich es mit der Hand auskämme. Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich in so einem Zustand verbringe, vielleicht Minuten, vielleicht Stunden. Ich weiß nur, dass ich hinterher noch tagelang gelöster und glücklicher bin und alles viel leichter von der Hand geht.
Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich die richtige Mischung gefunden habe. Aber jetzt freue ich mich jedes Mal, wenn ich meine Wohnungstür aufschließe, weil mein Flur wunderbar und subtil nach Kaffee und Gewürzen riecht. Mein Balkon ist ein Kräutergarten, was mir gleich doppelt zugutekommt. Einmal meinem Gaumen (Tomatensoße schmeckt so viel besser mit frischem Basilikum und Rosmarin) und zum zweiten meiner Nase. Es gibt nichts Schöneres als über den eigenen Recherchen zu schwitzen und plötzlich riecht die gesamte Wohnung nach Lavendel, Basilikum und Thymian. Im Winter wird gebacken: Nelken, Zimt, Bratapfel, Orangenkekse, Nüsse, was gerade so da ist. Was macht es schon, dass man nichts aufs Brot hat, wenn die Küche nach Weihnachtsbäckerei duftet.
Fragst Du Dich, wo das bleibt, was für viele untrennbar mit Sinnlichkeit verbunden ist? Wo ist die Erotik, die Lust an der Liebe, an der Partnerin, am Sex? Wo sind die obligatorischen Floskeln, mit denen Singles sich normalerweise rechtfertigen/entschuldigen/selbstbestärken usw.?
Das alles interessiert mich herzlich wenig. Ich funktioniere anders als Du, fundamental anders. Worte wie asexuell, demi-grey, autosexuell und aromantisch sind Hilfskonstrukte, die man nachschlagen kann. Was man in einer Definition nicht findet ist was das bedeutet.
Meine wichtigsten Beziehungen sind intime Freundschaften. Mein Flirt sind intime Gespräche. Mein Sex ist der Moment, wenn es klick macht und ich meinen Gegenüber schweigend anlächle weil wir beide gerade etwas Fundamentales verstanden haben. Und mein Orgasmus sind Geschichten. Egal ob geschrieben, gesprochen oder für’s Auge, wenn eine Geschichte sehr, sehr gut ist, erlebe ich sie in einer Intensität, die ich nicht beschreiben kann. Wenn sich die Spannung steigert und steigert, ist jede Faser meines Körpers bis aufs Äußerste gespannt, meine Hände krallen sich ineinander und ich fühle mich in meinen Haarspitzen und Zehennägeln.
Und dann Explosion, Auflösung; weinen, lachen, schreien, zittern, kichern, stöhnen, alles auf einmal. Endlose Katharsis zwischen Leidenschaft und Gewalt. Langsam wieder runterkommen, ein großes Glas Wasser trinken, Baden und mich in die frische Bettwäsche kuscheln. Aftercare.
Nach so einem Erlebnis brauche ich einige Zeit, bis ich wieder in der Realität angekommen bin. Es ist, als wenn ich die Geschichte auffresse und mich von ihr auffressen lasse. Aufgabe, Hingabe, Rausch, Leidenschaft, über meine Sinne, meine Seele, meinen Leib, meine Fantasie. Ah, so schwer zu beschreiben! Der einzige Vergleich, der es einigermaßen trifft sind Beschreibungen von intensiven BDSM-Szenen und dem Subspace danach.
Manchmal wünschte ich, wir könnten uns gegenseitig in unseren Köpfen besuchen.
Dann müssten wir nicht ständig nach Worten für etwas suchen, das sich sowieso nicht beschreiben lässt. Solange wir aber nur Worte haben, lasse ich Dich erstmal mit meinen zurück.